Führungsarbeit unter Druck: Verdammt zur schmerzhaften Neugier

Führungsarbeit unter Druck: Verdammt zur schmerzhaften Neugier

Ein gelber Kugelschreiber liegt auf dem Tisch. Das Drücken der Mine, könnte einen Stromschlag auslösen oder harmlos sein. Die Versuchspersonen wissen das. Sie wissen auch, dass der rote Schreiber garantiert einen Stromschlag auslöst und dass der grüne völlig sicher ist. Doch ihre Hände wandern immer wieder zum Gelben und gehen bewusst das Risiko ein.
Was wie ein skurriles Partyspiel oder die Einstiegsszene einer Netflixserie klingt, war ein psychologisches Experiment der US-Forscher Christopher K. Hsee und Bowen Ruan. Sie wollten wissen, wie stark Neugier Menschen zu riskanten Entscheidungen treibt, selbst wenn sie ahnen, dass diese ihnen schaden könnten. Das Ergebnis war eindeutig: Die Ungewissheit reizte stärker als die Sicherheit. Die gelben Stifte wurden häufiger angefasst als alle anderen. (Die Studie findet ihr in ganzer Länge unter dem Text als PDF.) Die Forschenden kamen darin zu einer schmerzhaften Erkenntnis: Menschen haben ein tief verankertes Bedürfnis, Unsicherheit zu beseitigen, selbst um den Preis der eigenen Unversehrtheit. Dieses sogenannte Pandora-Prinzip erklärt gut, warum sich Führende in der derzeitigen Diskurskrise beständig in psychische Gefahr begeben, obwohl sie wissen, dass es ihnen eher schadet und es zu keiner Lösung führt.

Führende und auch Kommunikatoren einer Kulturorganisationen, Institutionen oder Behörde haben den Auftrag, Gefahren für ihre Organisation zu minimieren. Doch spätestens seit dem Attentat der Hamas am 7. Oktober 2023 leben wir in einer gesamtgesellschaftlichen Lage, die vor allem eines ist: unsicher. Es geht um Fragen nach Schuld, nach Opfern und Tätern, um Einordnung und Bewertung und letztlich um die Grundfrage: Wie wollen wir leben? Führende versuchen, aus ihrer Haltung und Auftrag heraus, diese Fragen zu klären. Ihr Problem dabei ist, dass sie unendliche viele „Büchsen der Pandora“ dafür öffnen müssen. Jede Interaktion mit oder innerhalb einer Organisation kann zum Skandal-Auslöser werden: eine Ausstellung, der Inhalt einer Lehrveranstaltung, eine Demonstration, ein politisches Statement auf einem T-Shirt oder ein simpler Aushang am schwarzen Brett.

Der Anspruch und gleichzeitig die Unmöglichkeit, jede Unsicherheit zu erkennen, einzuordnen und handhabbar zu machen, erzeugt enormen Druck. Verstärkt wird diese Zwangslage durch eine Öffentlichkeit, in der Akteure gezielt Narrative setzen: Eine Flagge bekommt eine eindeutige politische Bedeutung, eine Geste oder Kleidungswahl wird mit einem bestimmten Weltbild verknüpft.

So entsteht ein hoch umkämpftes Feld. Der Versuch, Sicherheit herzustellen, führt zu einem fortwährenden Pandora-Effekt: immer wieder einen schmerzhaften Stromstoß zu ertragen, um zu verstehen, was geschieht. Für Führende und Kommunikatoren bedeutet das eine Extrembelastung, mitunter bis hin zur Traumatisierung.

Führende werden in einen Teufelskreis gezogen, der nicht selten damit endet, dass sie auf eine Reihe von Triggern mit Panik reagieren. Veranstaltungen werden hektisch abgebrochen, Kunstwerke entfernt oder es kommt zu Handgreiflichkeiten und Streitereien. Denn sobald ein Trigger anspringt, übernehmen Angst und Panik die Kontrolle und rationale Entscheidungen werden nahezu unmöglich. Genau das macht den Umgang mit der aktuellen Diskurskrise so herausfordernd.

Copingstrategien

„Schau nicht hin“ klingt nach einem einfachen Ratschlag. In der Realität funktioniert er selten, da wir es nicht lassen können, den gelben Knopf zu drücken. Sehr eindrucksvoll zeigt das eine Studie zu dem Trigger-Blocker bei Instagram. Seit 2019 werden dort sensible Inhalte zunächst unscharf angezeigt, versehen mit einer Contentwarnung. Betroffene sollten selbst entscheiden können, ob sie die Bilder sehen wollten. 2022 ergab eine Untersuchung: 80 Prozent klickten die Warnung weg, selbst dann, wenn sie wussten, dass die Inhalte sie belasten würden. Geblurrte Bilder wurden sogar häufiger geöffnet als vergleichbare Inhalte ohne Warnung.

In der Krisenkommunikation wiederholt sich das Muster. Wenn in einer Organisation ein Skandal aufkommt, wollen Verantwortliche oft sofort vor Ort sein, sich selbst ein Bild machen, auch ohne vollständige Informationen. Eine Warnung löst eher den gegenteiligen Effekt aus und macht die Handlung noch dringender.

Der erste Schritt im Umgang mit eskalierenden Symbolen und Debatten ist nicht das sofortige Hinschauen, sondern das systematische Durchgehen der bereits gesetzten Trigger. Es ist sehr hilfreich zu identifizieren, welche Akteure in einem Diskurs bestimmte Symbole, Ausdrücke oder Bilder gezielt etabliert haben, um gesellschaftliche Reaktionen auszulösen. Diese Analyse gelingt am besten in einem ruhigen Moment, losgelöst von einem akuten Anlass oder einer Handlungssituation. Nur so lässt sich klären, was genau hinter dem Auslöser steckt.
Ein anschauliches Beispiel ist das Gendersternchen. Es wurde bewusst aufgeladen, um die Diskussion über gesellschaftliche Gerechtigkeit und deren sprachliche Ausdrucksformen zu umgehen. Allein seine Nutzung, ob gefordert, verboten oder praktiziert, reicht aus, um in kürzester Zeit eine Eskalation herbeizuführen.

Ein Perspektivwechsel könnte helfen: Statt das Sternchen selbst zum Kampfplatz zu machen, sollte die Frage im Vordergrund stehen, wie wir miteinander kommunizieren wollen, um alle Menschen in der Gesellschaft angemessen einzubeziehen. Es geht um den zugrundeliegenden Wunsch, nicht um das Symbol. Und es geht darum, welche Rolle die eigene Institution in diesem übergeordneten Zusammenhang spielt.
Diese Analyse führt zur Sicherheit und verhindert, dass jede Büchse der Pandora geöffnet werden muss. Das Ergebnis ist überlegteres Handeln und eine höhere Verlässlichkeit.

Zur Studie “The Pandora Effect: The Power and Peril of Curiosity”.

Karen Bjerregaard Schlüter

Hej! Mein Name ist Karin, ich bin ziemlich nerdy und beschäftige mich viel mit digitalen Medien. Im Newsletter Digitalupdate teile ich meine Gedanken zu Entwicklungen im Digitalen.