Die Lage der Kulturszene hat sich zugespitzt: Das Publikum bleibt weg, politische Konflikte spalten die Kunstwelt. Was tun?
Hoch sind die Mauern des Museums. Tief ist der Raum hinter der Theaterbühne. Steil laufen die Sitzreihen der Hörsäle nach oben. Die Institutionen der Kultur und der Bildung konnten sich bislang immer auf dieses Gefälle verlassen. Wenn ein einzelner Mensch den Louvre in Paris betritt, dann ist das ein ungleiches Treffen: Die Person steht nicht nur einer weltweit berühmten Schatzkammer gegenüber, sondern auch einer jahrhundertealten Wissensmaschine. Alles, was sie erhoffen kann, ist, mit ihrem kleinen Einzelgehirn an einem winzigen Teil dieses Wissens zu partizipieren. Das Museum wendet sich ihr zu wie ein freundliches, gigantisches Monster.
Es ist kein Wunder, dass sich gerade die Museen daran gewöhnt haben, Sender zu sein. Zwar ist dauernd von Öffnung und Partizipation die Rede, doch den routinierten Gang von Kuration, Katalogproduktion und Gruppenführung scheint nichts wirklich durchbrechen zu können. Ich glaube, dass das nicht mehr lange gut gehen wird.
Drei Entwicklungen werden sich 2024 zuspitzen
Drei Entwicklungen machen den Kulturinstitutionen zu schaffen. Alle drei erfordern dringend, das Sender-Empfänger-Modell durch einen offenen diskursiven Raum zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen. Im Jahr 2024 werden sich diese drei Entwicklungen zuspitzen:
1. Globaliserung
Seit etwa zwei Jahrzehnten globalisiert sich der deutschsprachige Kulturbetrieb verstärkt. Ausstellungen und Festivals, deren Künstler:innen aus der ganzen Welt kommen, sind keine Ausnahme mehr, sondern die Regel. Das wurde bewusst angestrebt, und ist eine gute Entwicklung. Seit den Antisemitismus-Skandalen um die documenta 15 ist aber auch klar, dass man Künstler:innen und ihre Arbeiten nicht länger als isolierte Ereignisse (»Beiträge«) betrachten darf. Man hat es mit kulturellen und politischen Kontexten zu tun, über die man in Europa oft zu wenig weiß. Diese Kontexte müssen berücksichtigt und einbezogen werden. Für die aufkommenden Missverständnisse und Konflikte muss es diskursive Räume geben, damit sie produktiv gemacht werden können. Statt Sender zu sein, wird die Institution zum Host oder Moderator. Dafür braucht es neue Strukturen: Klassische Rollen wie Kurator:in, Dramaturg:in, Vermittler:in, Pressesprecher:in müssen erweitert oder ergänzt werden. Es braucht Diskurs-Teams.
2. Publikumskrise
Eine im Dezember 2023 veröffentliche Befragung des Berliner Instituts für kulturelle Teilhabe (IKTf) zeichnet ein düsteres Bild: das Publikum ist nach Corona nicht zurückgekehrt. Ältere bleiben weg. Jüngere kommen nicht nach. Gelegenheitsbesucher:innen gibt es noch weniger als vor fünf Jahren. Das mag nicht alle Häuser gleich betreffen, aber die Publikumskrise muss ernst genommen werden. Seit Jahren entwickeln einige Vordenker:innen vielfältige Outreach-Programme: Methoden, um neue Gruppen zu erreichen, in Kontakt mit Communitys zu kommen, analog wie digital. Diese Programme sollten endlich umgesetzt werden. Falls das nicht sofort möglich ist, helfen auch naheliegende schnelle Maßnahmen: Wenn man sich die Dornröschen-haften Social-Media-Kanäle vieler Häuser anschaut, wundert man sich, wie wenig selbst diese einfachen Wege genutzt werden, mit dem Publikum in Austausch zu kommen.
3. KI-Fortschritte
Vor hundert Jahren setzte die Avantgarde zum Höhenflug an. Expressionismus, Kubismus, Dadaismus und Surrealismus ließen die frühere Kunst alt aussehen: Sie etablierten völlig neue Methoden des Denkens, Wahrnehmens, Arbeitens. Oft war die Begegnung mit der neuen Kunst ein Schock für die Gesellschaft, später wurde daraus eine Auseinandersetzung , später ein großer Wandel. Heute kommt der Schock-Impuls von der Technologie: Innerhalb eines Jahres haben KI-Programme wie ChatGPT, Midjourney, Dall-E und viele andere rasante Entwicklungen durchgemacht. Unglaubliche Dinge sind plötzlich möglich, und es ist jetzt schon klar, dass die Medien- und Kulturwelt in wenigen Jahren vollkommen anders funktionieren wird. User:innen werden noch stärker als bisher daran gewöhnt sein, Bilder und Texte bedarfsgerecht geliefert zu bekommen, und selbst verändern zu können. Kulturinstitutionen fremdeln mit digitaler Technologie, das könnte sich jetzt als gefährlich erweisen. Florian Dohmann von der Berliner Agentur Birds on Mars hat es beim Kultur Digital Kongress im Oktober 2023 gesagt: Die Kunst muss ran! Die Häuser müssen jetzt KI-Teams bilden, die mit den neuen Möglichkeiten experimentieren. So wie vor hundert Jahren mit Abstraktion und Sprachlauten.
»Ein Mann, der sich nicht vorstellen kann, wie ein Pferd auf einer Tomate galoppiert, ist ein Idiot«, so lautet ein berühmtes Zitat des Surrealisten André Breton. Das wäre ein schönes, zu Experimenten anregendes Motto für 2024 – wir haben es gleich mal an Midjourney weiter gereicht.
Hi, mein Name ist Ralf, mich triffst du normalerweise in Museen, in Buchläden oder bei Konzerten. Ich bin Mitgründer von kultur{}botschaft, Berater und Kulturjournalist.
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